Lesezirkel am 30. Juli* 2024, 18:30

44. Treffen des SADOCC-Lesezirkels für afrikanische Literatur
am Dienstag, 30. Juli* 2024, 18:30 Uhr

Diskussion von Abdulrazak Gurnah (Zanzibar/UK):
Gravel Heart, 2017 / Das versteinerte Herz, 2024

Abdulrazak Gurnah

Abdulrazak Gurnah, Träger des Nobelpreises für Literatur 2021, wurde 1948 in Zanzibar City geboren, im heute zu Tanzania gehörenden Sultanat Zanzibar. Seine Erstsprache war Kiswahili, und er besuchte in seiner Geburtsstadt die vom englischen Kolonialsystem geprägten Schulen. Als Achtzehnjähriger flüchtete er vor der im Gefolge der zanzibarischen Revolution von 1964 entfesselten Verfolgung der dortigen arabisch-stämmigen Minderheit. Er lebt seit 1968 in England, wo er studierte und über Literaturkritik westafrikanischer Romane dissertierte.
Neben seiner akademischen Laufbahn ─ bis zu seiner Emeritierung 2017 von der University of Kent, Canterbury, war er Professor für Englisch und Postkoloniale Literaturen ─ schrieb Gurnah seit den 1980er-Jahren Kurzgeschichten und Romane.
Von seinen zehn auf Englisch geschriebenen Romanen wurden fünf zwischen 1996 und 2006 ins Deutsche übersetzt, waren 2021 aber vergriffen. Inzwischen werden diese Übersetzungen neu aufgelegt, 2021 Das verlorene Paradies, 2022 Ferne Gestade, 2023 Die Abtrünnigen. Gurnahs bisher letzter Roman, Afterlives, wurde im Herbst 2022 auf Deutsch veröffentlicht. Bis auf Die Abtrünnigen haben wir bereits all diese im Afrika-Lesezirkel diskutiert. Und kürzlich ist der Roman Gravel Heart auf Deutsch erschienen, den wir uns diesmal vornehmen.

Überblick über Gurnahs Romane

  • Memory of Departure, 1987
  • Pilgrims Way, 1988 – deutsch: Schwarz auf Weiß. Übersetzt von Thomas Brückner, 2004
  • Dottie, 1990
  • Paradise, 1994 – deutsch: Das verlorene Paradies. Übersetzt von Inge Leipold, 1996, durchgesehene Neuauflage 2021
  • Admiring Silence, 1996 – deutsch: Donnernde Stille. Übersetzt von Helmuth A. Niederle, 2000
  • By the Sea, 2001 – deutsch: Ferne Gestade. Übersetzt von Thomas Brückner, 2002/2022
  • Desertion, 2006 – deutsch: Die Abtrünnigen. Übersetzt von Stefanie Schaffer-de Vries, 2006/2023
  • The Last Gift, 2011
  • Gravel Heart, 2017 – deutsch: Das versteinerte Herz. Übersetzt von Eva Bonné, 2024
  • Afterlives, 2020 – deutsch: Nachleben. Übersetzt von Eva Bonné, 2022

Gravel Heart / Das versteinerte Herz

Ein junger Mann sucht nach Antworten, nach seinem Woher und Wohin, nachdem mysteriöse familiäre Umstände ihn aus seiner Heimat Zanzibar nach London verpflanzt haben.
Der in Zanzibar geborene bewährte Romanautor Gurnah erzählt aus der Ich-Perspektive vom Erwachsen-Werden einer Figur, deren Lebensumstände seinen eigenen ähneln. An einem Wendepunkt schreibt der Erzähler: „[Ich] fühlte mich wie eine Figur am Schluss eines Romans, die in eine strahlende Zukunft aufbricht.“ (S.115) Doch da hat der Protagonist erst knapp ein Drittel dieser Geschichte hinter sich gebracht, und eine strahlende Zukunft ist vielleicht keine realistische Erwartung. Das Wenige, was er über die Welt gelernt hat, stammt aus der Lektüre von Romanen. Diese Leidenschaft hat er von seinem Vater geerbt, der den Haushalt irgendwie in Schande verlassen hat. Der Sohn ist gleich nach England geschickt worden, wo er unter Aufsicht seines weltgewandteren Onkels Wirtschaft studieren soll. „Das Leben meines Vaters [war] vor langer Zeit entgleist, und ich [war] sozusagen ein Kollateralschaden“ (S.134), sagt Salim, dessen Name erst im 4. Kapitel genannt wird. Der Grund für die Zerrüttung der Familie bleibt für Salim ein Rätsel, selbst nach der Geburt einer Schwester, deren Vater jemand anderer gewesen sein muss. Salim verärgert seinen Onkel, als er das Wirtschafts- zugunsten eines Literatur-Studiums aufgibt, und findet durch sein sexuelles Erwachen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit.
Doch der Tod seiner Mutter bringt ihn zurück in ein stark verändertes Zanzibar, ein postrevolutionäres und nun von Touristen überlaufenes. Sein Vater, der während der bisherigen Erzählung des Sohnes fast stumm gewesen ist, sieht sich nun gezwungen, die dunklen Geheimnisse zu lüften, die seine Familie gespalten haben. Er tut dies in einer Reihe von Kapiteln, die wie Selbstgespräche wirken, und lässt Salim wissen, was seine Mutter getan hat und warum.
Wie viele ähnliche Prosawerke ist auch dieser hervorragende Roman so angelegt, dass sein Protagonist zwischen zwei Kulturen schwebt, Teil von beiden und doch von beiden getrennt.

(Rezension angelehnt an Kirkus, übersetzt von DeepL und LR-F, leicht gekürzt und ergänzt von LR-F)

Neue Teilnehmende sind uns willkommen.
Der Ort des hybrid geführten Treffens wird kurz davor bekanntgegeben. Anmeldung erbeten für Information über Ort und Link: lotte.rieder@sadocc.at

* ausnahmsweise urlaubshalber um 1 Woche auf den 5. Dienstag des Monats verschoben