Lesezirkel am 25.07.2023, 18:30 Uhr

Afrika-Lesezirkel 38. Treffen am Dienstag, 25. Juli 2023, 18:30 Uhr

Diskussion von Abdulrazak Gurnah (Zanzibar/UK):
Afterlives, 2020 / Nachleben, 2022

 

Abdulrazak Gurnah

Abdulrazak Gurnah, Träger des Nobelpreises für Literatur 2021, wurde 1948 in Zanzibar City geboren, im heute zu Tanzania gehörenden Sultanat Zanzibar. Seine Erstsprache war Kiswahili, und er besuchte in seiner Geburtsstadt vom englischen Kolonialsystem geprägte Schulen. Als Achtzehnjähriger flüchtete er vor der im Gefolge der zanzibarischen Revolution von 1964 entfesselten Verfolgung der dortigen arabisch-stämmigen Minderheit. Er lebt seit 1968 in England, wo er studierte und über Literaturkritik westafrikanischer Romane dissertierte.

Neben seiner akademischen Laufbahn ─ bis zu seiner Emeritierung 2017 von der University of Kent, Canterbury, war er Professor für Englisch und Postkoloniale Literaturen ─ schrieb Gurnah seit den 1980er-Jahren Kurzgeschichten und Romane.

Von seinen zehn auf Englisch geschriebenen Romanen wurden fünf zwischen 1996 und 2006 ins Deutsche übersetzt, waren 2021 aber vergriffen. Inzwischen werden diese Übersetzungen neu aufgelegt, 2021 Das verlorene Paradies, 2022 Ferne Gestade. Beide haben wir bereits im Afrika-Lesezirkel diskutiert. Sein letzter Roman, Afterlives, wurde nun auch auf Deutsch übersetzt und im Herbst 2022 veröffentlicht. Kürzlich wurde auch Die Abtrünnigen wieder aufgelegt.

                Überblick über Abdulrazak Gurnahs Romane:

  • Memory of Departure, 1987
  • Pilgrims Way, 1988 – deutsch: Schwarz auf Weiß. Übersetzt von Thomas Brückner, 2004
  • Dottie, 1990
  • Paradise, 1994 – deutsch: Das verlorene Paradies. Übersetzt von Inge Leipold, 1996, durchgesehene Neuauflage 2021
  • Admiring Silence, 1996 – deutsch: Donnernde Stille. Übersetzt von Helmuth A. Niederle, 2000
  • By the Sea, 2001 – deutsch: Ferne Gestade. Übersetzt von Thomas Brückner, 2002/2022
  • Desertion, 2006 – deutsch: Die Abtrünnigen. Übersetzt von Stefanie Schaffer-de Vries, 2006/2023
  • The Last Gift, 2011
  • Gravel Heart, 2017
  • Afterlives, 2020 – deutsch: Nachleben. Übersetzt von Eva Bonné, 2022

Afterlives / Nachleben

Ein Roman epischen Ausmaßes – mit nur 380 Seiten in der deutschen Ausgabe -, der mit seinen vier Hauptfiguren eine komplexe Geschichte erzählt, die sich über Generationen erstreckt – mit Fokus auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

Wo ist Ilyas Hassan geblieben? Das ist die zentrale Frage, die sich durch den Roman zieht.

Der Buchhalter und Lagerverwalter Khalifa sieht nicht „indisch“ aus als Sohn einer afrikanischen Mutter und eines Gujarati-Vaters. Er ist einer von vielen Gujarati-Siedlern an der ostafrikanischen Küste, einem Gebiet, welches das damalige Deutschland im Rahmen des „Scramble for Africa“ erobert hat.

Deutsch-Ostafrika wird gewalttätig beherrscht: „Früher oder später würden sie alle umkommen, und bis dahin würde das Kaiserreich dafür sorgen, dass die afrikanische Bevölkerung die geballte Faust der deutschen Macht zu spüren bekam und lernte, das Joch der Knechtschaft bereitwillig zu tragen.“

Ilyas ist als Kind von zuhause weggelaufen und bald darauf von einem Askari der Schutztruppe gefangen genommen worden. Dann wurde er in eine deutsche Missionsschule gesteckt. Als junger Erwachsener kommt er in die Küstenstadt, in der Khalifa lebt, und wird in dessen Freundeskreis eingeführt. Vor Beginn des Ersten Weltkriegs meldet er sich freiwillig als Askari zur Schutztruppe, um mit Deutschland gegen die Briten zu kämpfen.

Afiya ist Ilyas‘ jüngste Schwester, von deren Existenz er zunächst nichts weiß. Auf der Suche nach seinen Eltern reist er zu seinem Geburtsort und erfährt dort, dass sie als einzige von seiner Familie am Leben ist. Er holt sie zu sich in die Stadt. Später lebt sie in Khalifas Haus.

Ein jüngerer Mann namens Hamza meldet sich ebenfalls zur Schutztruppe – und bedauert seinen Entschluss sofort wieder. Dort erlebt er Erniedrigung und ungeahnte Brutalität. Nach der deutschen Niederlage kehrt er verletzt in die Stadt zurück, wo er vorher gelebt hat, und findet Arbeit in demselben Handelsunternehmen wie Khalifa.

Gurnahs Geschichte ist eine unaufdringliche Persönlichkeitsstudie; es gibt wenig Handlung, die Reaktionen sind nuanciert und absolut glaubwürdig; eine berührende Liebesgeschichte entwickelt sich zwischen zwei traumatisierten Menschen.

Der Ausgang ist unerwartet, denn die Handlung endet mit zwei Ilyasen: dem Askari und Hamzas Sohn, der nach dem verschollenen Ilyas benannt ist und 1963 als junger Mann nach dessen Verbleib fahndet. (Rezension angelehnt an jene von Kirkus https://www.kirkusreviews.com/book-reviews/abdulrazak-gurnah/afterlives/, übersetzt von DeepL und LR-F, gekürzt und ergänzt von LR-F

Neue Teilnehmende sind herzlich willkommen. Anmeldung erbeten bei Lotte Rieder-Fraunlob, von der Sie den Link zum hybriden Treffen bzw. die Adresse des Treffens erhalten.