Online-Lesezirkel am 22. März 2022, 18:30

Lesezirkel-online-Treffen am Dienstag, 22. März 2022, 18:30 Uhr

Diskussion von Abdulrazak Gurnah (Zanzibar/UK):
Paradise, 1994 / Das verlorene Paradies, 1996/2021

Abdulrazak Gurnah, Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 2021

Abdulrazak Gurnah wurde am 20. Dezember 1948 in Zanzibar City, Sultanat Zanzibar, geboren. Seine Erstsprache war Kiswahili, und er besuchte in seiner Geburtsstadt vom englischen Kolonialsystem geprägte Schulen. Als Achtzehnjähriger flüchtete er vor der im Gefolge der zanzibarischen Revolution von 1964 entfesselten Verfolgung der dortigen arabisch-stämmigen Minderheit und lebt seit 1968 in England, wo er studierte und über Literaturkritik westafrikanischer Romane dissertierte.
Neben seiner akademischen Laufbahn ─ bis zu seiner Emeritierung 2017 von der University of Kent, Canterbury, war er Professor für Englisch und Postkoloniale Literaturen ─ schrieb Gurnah seit den 1980er-Jahren Kurzgeschichten und Romane.

Seinen zehn auf Englisch geschriebenen Romanen wünschte der Autor bessere Verkaufszahlen. Fünf von ihnen wurden zwischen 1996 und 2006 ins Deutsche übersetzt, waren in letzter Zeit aber vergriffen. Jetzt werden diese Übersetzungen neu aufgelegt, kürzlich Das verlorene Paradies, als nächste Ferne Gestade. Eine deutsche Übersetzung seines jüngsten Romans Afterlives wird bald fertiggestellt und veröffentlicht, was für den deutschen Sprachraum wegen der darin beschriebenen kolonialen und postkolonialen Schicksale von afrikanischen Hilfssoldaten der deutschen Ostafrika-”Schutztruppe” (1891 bis 1918) von besonderer Bedeutung ist.

  • Memory of Departure, 1987
  • Pilgrims Way, 1988 – deutsch: Schwarz auf Weiß. Übersetzt von Thomas Brückner, 2004
  • Dottie, 1990
  • Paradise, 1994 – deutsch: Das verlorene Paradies. Übersetzt von Inge Leipold, 1996, durchgesehene Neuauflage 2021
  • Admiring Silence, 1996 – deutsch: Donnernde Stille. Übersetzt von Helmuth A. Niederle. 2000
  • By the Sea, 2001 – deutsch: Ferne Gestade. Übersetzt von Thomas Brückner, 2002
  • Desertion, 2006 – deutsch: Die Abtrünnigen. Übersetzt von Stefanie Schaffer-de Vries, 2006
  • The Last Gift, 2011
  • Gravel Heart, 2017
  • Afterlives, 2020

Im Jahr 2021 erhielt Abdulrazak Gurnah den Nobelpreis für Literatur. Seit 1993, als Toni Morrison ihn gewann, waren keine schwarzen Schriftsteller/innen mehr mit diesem Preis ausgezeichnet worden. Frühere afrikanische Literatur-Nobelpreisträger/innen waren: als erster Wole Soyinka im Jahr 1986, gefolgt von Nagib Machfuz im Jahr 1988, Nadine Gordimer im Jahr 1991, John Maxwell Coetzee im Jahr 2003 und Doris Lessing im Jahr 2007.

Paradise / Das verlorene Paradies
Mit seinem vierten Roman gelang Gurnah im Jahr 1994 sein Durchbruch und eine Nominierung für den britischen Booker-Preis.
”Hauptfigur ist der Bub Yusuf, der von seinem Vater zur Tilgung seiner Schulden dem arabischen Kaufmann Aziz überlassen wird. Als Teil von dessen Handelsexpeditionen nach Gold und Kautschuk entdeckt Yusuf das Innere des Kontinents. Erstmals wandte sich Gurnah damit einem historischen Stoff zu. […] Er wollte einer von Siegern gemachten Geschichtsschreibung bequemer, falscher Narrative entgegentreten.
Wie liest sich dieser auch heute hochaktuelle Anspruch einer Geschichtsschreibung von „unten“ im konkreten Fall? Bunt und lebhaft!
Gurnah beschreibt einerseits eine Welt aus duftenden Speisen, überwältigenden Landschaften, wilden Tieren. Ein Kniff liegt darin, dass er nichts von oben herab deutet, sondern alles zeigt, wie Yusuf es wahrnimmt: An der Seite des Heranwachsenden taumelt der Leser so vorwärts durch ein multiethnisches Tansania, und manches bleibt vage und subjektiv. Lässt Gurnah in seinem Personal Araber, eingeborene Stämme und die indische Bevölkerung exemplarisch aufeinandertreffen, wird einmal heiter palavert, und ein anderes Mal zeichnen sich Konfliktlinien ab. Andeutungsreich verweigert sich diese Fülle dem eurozentrischen Blick: Nehmt euch nicht zu wichtig, weiße Leser! Hier gab es Geschichte vor euch!
Andererseits wird Das verlorene Paradies zu Recht als eine Anklage der deutschen Kolonialverbrechen gelesen. Zunehmend treffen die Abenteurer auf Deutsche, die schon rein körperlich mit rotfleckiger Haut oder dämonischen Gesichtern verstören. „Sie machten, was sie wollten, und niemand konnte sie daran hindern“, heißt es über ihre Gier und Grausamkeit. Sogar böse magische Kräfte werden den als übermächtig Empfundenen, die andererseits aber auch rettend ins Geschehen eingreifen, nachgesagt.
Gurnah verweigert sich konsequent flachen Zuschreibungen, hängt keiner klaren Täter-Opfer-Ideologie an, setzt auf Ambivalenz.
Die Expedition der Karawane wird ein mehrmals lebensbedrohlicher Fehlschlag. Mit Kolorit bedient Gurnah so eine Sehnsucht des Lesers nach Bildern, vergisst aber zugleich nicht die diskursive Ebene. Dass in Yusuf spät ein Widerstand gegen die Versklavung bei Aziz wächst, ist als Höhepunkt des Entwicklungsromans, der Das verlorene Paradies auch ist, nur folgerichtig.
Schreiben könne nicht nur Kampf und Polemik sein, sagte Gurnah in seiner Nobelpreisrede: Sowohl Hässlichkeit als auch Tugend des Menschen sollten zur Geltung kommen. Die Verbindung von Politischem und Menschlichem glückt.” Abdulrazak Gurnah neu aufgelegt: Rotfleckige Deutsche in Afrika, Michael Wurmitzer, Der Standard, 9.12.2021

Neue Teilnehmende sind uns willkommen. Anmeldung erbeten bei Lotte Rieder-Fraunlob, wo Sie den Link zum Online-Treffen erhalten: lotte.rieder@sadocc.at